liebesbrief 350 

 
     

Hörbuch

von Urs Widmer

gelesen von WOLFRAM BERGER

 

Da stand sie... Eine Haut wie aus Porzellan, die Haare hochgesteckt, ein Lächeln,
bei dem Leonardo, hätte er es zu Gesicht bekommen, seine Skizzen der Mona Lisa zerissen hätte

 

 

 Mary, gebürtige Irin, wohnhaft in Zürich, ist eine lange Latte mit einer durchsichtigen Haut, ein paar Sommersprossen, blauen Augen, blonden Haaren. Zwei Verehrer hat sie in Zürich: einen Schriftsteller und Ich-Erzähler sowie seinen Freund Helmut, Briefschreiber und ebenfalls Schriftsteller - und doch landet sie bei einem Tankwart im fernen Australien. Hier bekommt sie Helmuts "Liebesbrief für Mary".

 

Dieses Hörbuch wurde in der hr2 Hörbuchbestenliste Februar 2015 aufgenommen.
http://www.hr-online.de/website/radio/hr2/index.jsp?rubrik=3730

 

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Wenn Literatur Litoratur wird.


Als bekannt wurde, dass Urs Widmers „Liebesbrief für Mary“ als Hörbuch produziert werde, liess der Gedanke an die verwegene Textstruktur des Buches gar keinen andern Schluss zu: Drei Sprecher benötigt diese Produktion, damit deutlich werden Kann, über welche verschlungenen Ebenen Widmers Text hinwuchert. Jetzt aber steht auf dem Umschlag des Hörbuches ein einziger Name: Wolfram Berger, - und trotzdem wird auf beeindruckende Weise wahrnehmbar wie das mehrschichtige Textgefüge – und in ihm die inhaltlichen Überlappungen -  konstruiert sind. Die Besetzung durch Wolfram Berger ist ein Glücksfall! Im wechselbaren Timbre seiner Stimme und in den dehn-  und raffbaren Tempi seines Sprechduktus, birgt er erstaunlich souverän mehrere Sprechende, - im Fall des „Liebesbriefes für Mary“ alle drei:

Da ist Helmut, der seinen langen Liebesbrief an Mary Hope schreibt, die jetzt Akwerkepenty-Pu heisst, seit sie die Liebe in die Arme eines Tankwarts an einer einsamen Tankstelle mitten in der australischen Wüste getrieben hat. Und weil diese angebetete Mary, eine Irin,  nur schlecht Deutsch spricht, gesteht er ihr seine Liebe auf Englisch. Aber welch eigenartig verqueres Englisch sich Urs Widmer da hat einfallen lassen. Es ist das Englisch eines Schweizers, ein elementares Schulbuchenglisch, das dem Leser – und in unserem Fall: dem Hörer – auf listige Weise verrät, dass da Gedanken auf Deutsch gedacht und  dann in ein ruppiges Wörterbuchenglisch getaucht worden sind. Brillant, wie Wolfram Berger einen erkennbaren deutschen Akzent in sein Englisch hineinschmuggelt, der sich bei genauerem Hinhören als schweizerdeutscher zu erkennen gibt.

Und dann ist da der eigentliche Erzähler, der darlegt, wie er und sein Freund Helmut, seit Kindesbeinen Wand an Wand aufgewachsen und auch jetzt wieder in einer WG untergekommen, vieles uns alles gemeinsam haben, so weit, dass  der eine sogar seine Geliebte an den andern weitergibt. Dieser Erzähler unterbricht Helmuts Liebesbrief mit eigenen Anmerkungen, er rückt Behauptetes und Vermutetes zurecht und legt  so auch unter erotische Sehnsüchte einen Boden, der aus Stückwerk gelebter Realität gezimmert ist.

So viel haben Helmut und der Erzähler gemeinsam, dass man  glauben möchte, die beiden seien eine und dieselbe Person. Aber da lässt Helmut Berger alle seine erstaunlichen Fähigkeiten wirken und trennt einerseits was von beiden Personen getrennt sein muss und führt andrerseits zusammen, was ihnen gemeinsam ist: Sie sind gleichzeitig zwei und dann wieder eine Person.

Und Wolfram Berger meistert allein auch die dritte Schicht, jene die in der Buchausgabe in höherer Schriftgrösse eingerückt ist: Jener neutralere klärende Situationsbericht, jene dritte Ebene, die, wo Tragik in die widmersche Ironie einbricht, durchsichtig wird und die schliesslich zum Hauptspielplatz aufklafft, wenn die brutalen Reiter der Apokalyse über die Handlung und alles Verhandelte hinweggaloppieren.  

Zugegeben: Ich habe noch nie Grund gehabt, einen Sprecher derart uneingeschränkt zu feiern, standen doch in den „Hör-orten“ bislang immer die Autoren der Hörbücher im Zentrum. Schliesslich ist die Energie zu würdigen, mit der sich Wolfram Berger vor Langem schon an Musils „Mann ohne Eigenschaften“ herangewagt hat, und die virtuose Selbstbeherrschung, mit der er in Ulrich Bechers „Murmeljagd“ sein sprechkünstlerisches Meisterstück abgeliefert hat. Und schliesslich macht er Stephan Lohrs Darlegung überprüfbar „wie sich in der akustischen Version Verständnisstrukturen vom Leseverständnis unterscheiden“. Sehr keck, fast schon übermütig, gehe ich noch einen Schritt weiter wenn ich behaupte, da trete der orale Urgrund aller Literatur zu Tage. Es kann also kein Tippfehler sein, dass ich, als ich das Wort Literatur in meinen Computer tippen wollte, das Wort Litoratur auf dem Bildschirm stehen sah.                                              

- Peter K. Wehrli


http://www.katalogvonallem.ch/

 

"Mit leerem Kopf nickt es sich leichter"

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